Teil des Projektes Creative Review
Virtual Reality kann mehr als bloß Gamingwelten schaffen. Neben Anwendungen in Produktentwicklung, Lernen und Architektur können virtuelle Umgebungen auch in der Therapie eingesetzt werden. Ein Beispiel dafür ist das Forschungsprojekt VR4 Mind & Motion, das die Therapiemöglichkeiten für Menschen mit demenzieller Erkrankung erweitern soll. Die Idee und die Ausführung dazu kamen von der Linzer Digitalagentur Netural, die sich eine fundierte Kompetenz im Bereich E-Health und medizinische Technik aufgebaut hat.
Derzeit leben rund 100.000 bis 130.000 Menschen mit einer Demenzerkrankung in Österreich. Expert*innen gehen von hohen Zuwachsraten aus, allein schon wegen der gestiegenen Lebenserwartung. Denn mit dem Alter steigt auch die Gefahr, an Demenz zu erkranken. Unser Gesundheitssystem ist darauf nicht vorbereitet, und die Pflege und Begleitung von Betroffenen stellen eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen dar.
Demenz ist eine fortschreitende Erkrankung des Gehirns. Betroffene verlieren die erworbene Denkfähigkeit, werden vergesslich und desorientiert und sind zunehmend auf Hilfe aus ihrem Umfeld angewiesen. Eine Aussicht auf Heilung besteht nur bei einzelnen Formen der Demenz, in den meisten Fällen können therapeutische Maßnahmen nur das Fortschreiten der Erkrankung verzögern.
Möglichkeiten der Therapie sind Medikamente und gezielte Aktivitäten wie etwa die Erinnerungspflege. Dabei ruft man mit allgemeineren Themen aus der Biografie der Patient*innen positive Erlebnisse in Erinnerung, zum Beispiel anhand von Fotos. Die Erinnerungssituation wird von den Betroffenen oft sehr emotional erlebt. Das kann ihre Gesprächsbereitschaft und Gedächtnisleistung anregen und langfristig ihr Wohlbefinden steigern.
„Menschen mit fortgeschrittener demenzieller Erkrankung sind oft nicht im Jetzt. Sie erkennen sich auf einem jahrzehntealten Foto, aber nicht im Spiegel“, erklärt Robert Hartmann. Er leitete bei Netural von 2015 bis 2021 die Forschung & Entwicklung (F & E) im Bereich E-Health und medizinische Technik. Aus einer vorangegangenen Studie weiß man, dass das realitätsnahe und intensive visuelle Erlebnis in der Virtual Reality die Erinnerungspflege unterstützen kann. „Das immersive Erleben in einer virtuellen 360-Grad-Umgebung wird von Menschen mit Demenzerkrankung oft intensiver wahrgenommen als von Menschen ohne kognitive Beeinträchtigungen“, ergänzt er.
Vielversprechende Erkenntnisse also, die zur klinischen Pilotstudie VR4 Mind & Motion geführt haben – und einem Konsortium, das die Kompetenzen der fünf Linzer Forschungspartner*innen verbindet. Neben Netural sind dies Life Tool Solutions, R‘n’B Consulting, amago Filmproduktion und die Volkshilfe Oberösterreich. Ihr Forschungsziel ist es, ein neuartiges, VR-gestütztes physisches und mentales Training zu entwickeln, das in Pflegeeinrichtungen und im häuslichen Umfeld zur Anwendung kommen kann.
Zu Projektbeginn erhob Life Tool Solutions die Benutzeranforderungen und stellte die Usability sicher. Das Linzer Forschungsinstitut ist auf die Entwicklung von Software für Menschen mit Beeinträchtigungen spezialisiert und bindet diese auch in F & E ein. Die Proband*innen wurden über die Volkshilfe Oberösterreich rekrutiert, die Tagesbetreuungszentren für Menschen mit demenzieller Erkrankung betreibt. So können die Tests im Tageszentrum stattfinden und in den gewohnten Tagesablauf der Testpersonen integriert werden.
Das physische Training wird auf einem Liegeergometer absolviert. Während die Proband*innen in die Pedale treten, erleben sie über die VR-Brille Wald- und Wiesenumgebungen oder den Linzer Mariendom in 360-Grad-Videoaufnahmen. Die Pflegekräfte können auf einem Tablet mitverfolgen, was die Testpersonen sehen und später in der Erinnerungsarbeit daran anknüpfen. Beim physischen Training der Proband*innen geht es primär darum, den Kreislauf anzuregen und die Gesamtaktivität zu erhöhen, sagt Michael Ring vom Beratungsinstitut R’n’B Consulting.Er hatte die Pilotstudie bei der Ethikkommission eingereicht und das Studiendesign entwickelt. Neben den positiven Auswirkungen auf die Psyche erwartet man sich durch die VR-gestützte Therapie auch eine Verbesserung der körperlichen Verfassung. Zu den erwünschten Effekten zählt beispielsweise das Reduzieren der Medikation. Und schließlich sollte es auch zu einer Entlastung der pflegenden Angehörigen und Pflegekräfte kommen.
Die Art der Sujets wurde vorab von den Pflegekräften der Volkshilfe mit Patient*innen abgeklärt. Denn auch wenn der Content die körperliche und soziale Aktivität anregen soll, so soll er doch auch entspannend wirken. Die Inhalte erstellte die amago Filmproduktion. Wie Co-Gründer Philipp Langebner erklärt, handelt es sich bei den Videoaufnahmen um Echtbilder. „Da sich die Proband*innen selbst bewegen, könnten Bewegungen im Bild irritieren und ihre Sicherheit gefährden. Deshalb haben wir ausschließlich statische Motive eingesetzt. Es gibt keine Kamerabewegungen“, erklärt Philipp.
Auch wenn dadurch relativ wenig Handlungsspielraum beim Gestalten der Videos gegeben war, hält es Philipp für wesentlich, sich als kreativwirtschaftliches Unternehmen an solchen und anderen Forschungsprojekten zu beteiligen. Die Kreativwirtschaft könne zusätzlich zu integralen Bestandteilen wie in diesem Fall der VR-Umgebung dafür sorgen, dass Forschungsergebnisse greifbar, verständlich und ansprechend werden. „Ich halte es für eine der Kernaufgaben unserer Branche, Informationen für ein breites Publikum so aufzubereiten, dass sie ‚attraktiv konsumierbar‘ sind. Das reicht vom klassischen Erklärvideo bis hin zu Big Data-Grafiken und Illustrationen von komplexen Inhalten“, sagt Philipp.
Die Ergebnisse des Projekts VR4 Mind & Motion sollen die Grundlagen für eine umfassende Zulassungsstudie liefern. Bis zu einer möglichen Anwendung der neuen Therapie wird also noch mindestens ein Jahr vergehen. Ermöglicht wurde das Projekt durch eine Förderung vom Land Oberösterreich. Da alle Projektpartner*innen aus Oberösterreich sind, läuft VR4 Mind & Motion über die Förderschiene SKU, in der Kooperationen zwischen Unternehmen in Oberösterreich stimuliert und umgesetzt werden sollen, erklärt Gabriel Schörkhuber aus dem Medizintechnik-Cluster (MTC) der Wirtschaftsagentur Oberösterreich, der das Projekt koordiniert hat. Der Cluster unterstützt unter anderem Antragsteller*innen mit ihrem Netzwerk im Sektor Medizin Tech und bei der Ergebnisverbreitung.
Text: Hildegard Suntinger
Credits Artikelbild: amago