„Wahre Produktivität entsteht dort, wo Menschen das Wesentliche priorisieren, nicht dort, wo wir einfach nur beschleunigen.“
Mit dieser klaren Ansage stellte Future-Work-Expertin Jeanny Gucher bei “Future m[eats] Creativity?” die momentane Grundannahme unserer Arbeitswelt auf den Prüfstand. Denn während künstliche Intelligenz neue Effizienzrekorde verspricht, stellt sich die eigentliche Frage: Tun wir wirklich das Richtige – oder einfach nur mehr vom Falschen?

Zwischen High Hopes und Realität
Die Prognosen klingen beeindruckend: McKinsey und Goldman Sachs sprechen von Milliarden zusätzlicher Produktivität jährlich durch den Einsatz von KI. Doch Gucher blickt tiefer: „Wir sparen vielleicht eine Stunde am Tag, aber verbringen wir sie damit, etwas Sinnvolles zu tun?“ fragt sie. „Oder damit, die Ergebnisse der KI dreimal zu überprüfen?“
Ihr Fazit: Die gewonnene Zeit ist wertlos, wenn wir sie nicht mit Bedeutung füllen. Denn Effizienz, verstanden als mehr Output in weniger Zeit, greift zu kurz. Die Zukunft braucht ein neues Verständnis davon, was Wertschöpfung bedeutet – jenseits von reiner Beschleunigung.
Alte Paradigmen, neue Ökonomien
Seit 150 Jahren prägt uns die Logik der klassischen Ökonomie: Wachstum, Gewinn, Optimierung. Doch diese Welt beginnt zu bröckeln. „Wir erleben gerade den Übergang in vier neue Ökonomien“, so Gucher. „Sie überlagern die alte Logik, ersetzen sie aber nicht. Und sie fordern uns dazu auf, ganz neue Fähigkeiten zu kultivieren.“ Gucher formulierte für jede der neuen Ökonomien einen anwendbaren “Hack”.
1. Die Ökonomie des Wissens
Vom Vorsprung zur Relevanz
Europa hat jahrzehntelang von einem Wissensvorsprung gelebt. Doch KI entwertet dieses Kapital rasant. Wissen ist plötzlich kein Wettbewerbsvorteil mehr, sondern eine austauschbare Ressource.
„Wissen wird weniger wichtig, aber Wissen anders zu bearbeiten, Sinn zu machen, Bedeutungszusammenhänge zu erkennen, das bleibt.“
Gucher nennt das „Relevance Realisation“ und sieht darin den zentralen Skill des KI-Zeitalters. Denn Wissen allein reicht nicht. Entscheidend ist, was wir aus Wissen machen.
Hack #1: Kuratiertes Wissen statt Informationsflut
Unternehmen brauchen redaktionelle Prozesse – Räume, in denen gemeinsam entschieden wird, was wirklich zählt. Wie in einer Redaktion gilt: Relevanz ist kein Zufall, sondern das Ergebnis von Austausch, Diskurs und Urteilsfähigkeit. „Train the judgment, not the task“, sagt Gucher. „Übt, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden – jeden Tag.“
2. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit
Das rare Gut
Aufmerksamkeit ist zur härtesten Währung geworden, für Marken, Medien, Menschen. Und sie ist endlich.
„Unsere teuersten 90 Minuten der Woche sind oft Meetings, in denen drei Leute am Handy sind“, sagt Gucher. „Wir verwechseln Präsenz mit Teilnahme.“ Ihr Appell: Wir müssen lernen, Aufmerksamkeit zu schützen – als Ressource, die Fokus, Kreativität und Sinn ermöglicht.
Hack #2: Präsenz als Produktivität
Effizienz entsteht, wenn Aufmerksamkeit fokussiert ist. Was du tust, tue ganz. Der Mensch, mit dem du sprichst, soll deine volle Aufmerksamkeit haben. Präsenz ist die härteste Währung der Aufmerksamkeit und der größte Vertrauensbooster im zwischenmenschlichen Kontext.
3. Die Ökonomie der Experience
Lernen, das berührt
„Wissen zu vermitteln reicht nicht mehr“, sagt Gucher. „Was durch den Lärm dringt, sind Erlebnisse.“
In einer Welt voller Reize werden Erfahrungen, die berühren, inspirieren und Sinn stiften, zum neuen Differenzierungsmerkmal, auch in Unternehmen. Lernen wird nicht mehr als Event verstanden, sondern als integraler Bestandteil des Alltags.
„Wir brauchen keine weiteren Schulungen, sondern Experiences, die Erkenntnisse erzeugen, die man nicht rückgängig machen kann.“
Hack #3: Experiences mit Tiefe schaffen
Gestaltet Lern- und Arbeitsräume, die berühren – mit Sinn, Kontext und Tiefe. Je mehr Sinne beteiligt sind, desto nachhaltiger wirkt eine Erfahrung. „Experience Management“ wird zur zentralen Kompetenz für Führung, Kultur und Innovation.
4. Die Ökonomie der Beziehungen
Vertrauen als Währung
Wenn Inhalte synthetisch und Bilder manipuliert sind, wird Vertrauen zum kostbarsten Gut.
Vertrauen wird damit zu einem echten Wirtschaftsfaktor: Es beschleunigt Prozesse, stärkt Teams und schafft psychologische Sicherheit.
„Jeder Mensch führt ein inneres Vertrauenskonto“, erklärt sie. „Wer Erwartungen erfüllt, zahlt ein. Wer sie enttäuscht, rutscht ins Minus.“ In einer Welt voller Unsicherheit entscheidet dieser Speed of Trust (entwickelt von Stephen M.R. Covey) über Innovationsfähigkeit.
Hack #4: Vertrauen als Basis von Effizienz
Führung bedeutet heute, Beziehungen zu pflegen, die auf Transparenz, Integrität und Echtheit beruhen. Vertrauen wird zur Basis von Effizienz – nicht ihr Nebeneffekt.


Effizienz ist nicht das Ziel. Relevanz ist es.
Jeanny Gucher fordert ein radikales Umdenken: weg von der Idee, schneller zu werden – hin zur Frage, was wirklich Sinn macht. Nicht alles, was beschleunigt, verbessert sich dadurch.
„Wir müssen das Signal vom Rauschen trennen“, sagt sie. „Und unsere Aufmerksamkeit dahin lenken, wo Bedeutung entsteht.“
Denn am Ende zählt nicht, wie viel wir schaffen, sondern was davon bleibt.
Fazit
Effizienz ist kein Selbstzweck. Zukunft entsteht dort, wo Technologie und Menschlichkeit sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig verstärken. Wo Wissen kuratiert, Aufmerksamkeit geschützt, Experiences geschaffen und Vertrauen gepflegt wird.
Oder, wie Gucher am Ende ihres Vortrags zitierte:
„We need stories, movers and spaces that hold us.“
Genau darum geht’s. Räume zu schaffen, die uns als Menschen verbinden – auch in einer Welt, die sich immer schneller dreht.